Das neue, dritte ECM-Album von Craig Taborn enthält alles andere als leicht verdaulichen, oder gar nebenbei zu genießenden Modern und Free Jazz. Vielmehr ist Daylight Ghosts zumindest bei der ersten Begegnung nichts weniger als eine Herausforderung, sich intensiver mit der Jazzwelt des Craig Taborn zu beschäftigen, um Zugang zu ihr gewinnen. Als Einstieg sind die langsameren Titel, etwa der Titelsong zu empfehlen, die zwar wie die schnelleren Titel eine unglaubliche Vielzahl kurz angerissener, sofort stark improvisierter Melodien umfasst, jedoch dank ruhiger Gangart die mit der Melodien- und Improvisationsvielfalt einhergehenden Stimmungsschwankungen die Toleranz des Zuhörers nicht allzu sehr auf die Probe stellen. Kommt dann bei den flotteren Titeln das dort vorherrschende atemlose Vorwärtsdrängen dazu, wie etwa gleich zu Beginn des Albums in „The Shining One“, kann dies für die Geduld des Zuhörers bei der ersten Begegnung durchaus grenzwertig sein. Man sollte sich diesem teils kurzatmigen Jazz also geduldig widmen und, statt voreilig den Stab über ihm zu brechen, die in dieser Jazzwelt gesprochene Sprache auf sich einwirken lassen, und, wie gesagt den Einstieg über die langsameren Titel wählen. Die Mühe lohnt sich spätestens dann, wenn die vermeintliche Sprachenverwirrung sich in zwar gewöhnungsbedürftige, jedoch zunehmend verständliche Sprachenvielfalt auflöst. Entspannt folgt man dann den fantasievoll und farbig gestalteten Beiträgen des Quartetts, dem neben Craig Taborn am Keyboard und Piano, Chris Speed, Tenorsaxofon und Klarinette und Chris Lightcap, Bass aus der New Yorker Jazzszene, und Dave King am Schlagzeug angehören, der vor allem durch seine Mitwirkung im Trio The Bad Plus bekannt ist.
Saxofon- und Klavierläufe entwickeln sich unabhängig voneinander und laufen diameteral entgegensetzt auseinander, um sich ab und an punktuell zu überschneiden. Der Rhythmus bleibt dabei lange stabil ruhig, um schlagartig einige Gänge zuzulegen, was für Klavier und Saxofon das Signal ist, hektisch nachzueilen. Schlussendlich versiegt der schnelle Puls, bricht ein und der Bass übernimmt kurzzeitig die Rolle des Saxofons bis dieses zusammen mit dem Klavier, getrieben vom Schlagzeug dem plötzliche Ende entgegenstürmt, das kein Abschluss hat, sondern im nichts endet. Soweit die Geschichte von „Abandoned Reminder“ . Keine den Titeln zugrundeliegende Geschichte ähnelt der anderen. The „Great Silence“ hebt an mit einer klangvoll ausgekosteten, vom Klavier punktuell gestützten, vom Schlagzeug verhalten kommentierte Klarinettenerzählung, der einzigen, ausführlich entwickelten, variierten und improvisierten Melodie des gesamten Albums, die schlussendlich verklingt. Auf „Ancient“ lockt der Bass rhythmisch gezupft zunächst solo, bis das Piano sich angesprochen fühlt und mit einzeln im Raum stehenden Tönen reagiert, die vom Saxofon zum Anlass genommen werden, seinen Kommentar ausführlich abzugeben, was wiederum das Klavier zu mehr Lebendigkeit motiviert, die schließlich auf alle Instrumente samt Schlagzeug übergreift. Das Ganze rennt, sich zunehmend verschränkend dann hektisch rhythmisiert im beinahe schon nervenden Ostinato seinem jähen Ende zu. Der letzte Titel, „Phantom Ratio“ erweist sich als unendlicher, trauriger Abgesang des Saxofons, der seinem Ende auf fröhlich gestimmtem Schlagzeugrhythmus ähnlich dem echogestützten Rufen eines Alphorns in zunehmend chaotischer Umgebung entgegenschwebt, um im Nowhere einsam zu verklingen.
Mit Daylight Ghosts bleibt ECM seiner seit den Siebzigerjahren eingeschlagenen Linie treu, vorrangig neben dem Mainstream liegenden Jazz zu präsentieren, der in die Zukunft weisend den Horizont der Hörer und nicht zuletzt die Ausdrucksvielfalt der Jazzmusiker erweitert, und der erfahrungsgemäß aus der Rückschau nicht selten zum Klassikern wird. Dass die Aufnahmetechnik unter der Oberaufsicht des Labeleigentümers Manfred Eicher in den besten Händen liegt, ist für ECM Ehrensache und in Gestalt des hochauflösenden Downloads für jedermann leicht nachvollziehbar.
Craig Taborn, Klavier, Electronics
Chris Speed, Tenorsaxophon, Klarinette
Chris Lightcap, Bass
Dave King, Schlagzeug